Der kleine König 
                der dunklen Straße

Er wurde als »Kronprinz des TripHop« und genialer Erneuerer der elektronischen Musik gefeiert. Michael Sailer traf TRICKY in London und erfuhr, daß man ihn bislang total mißverstanden hat.
Seltsam: Jedesmal, wenn ich in London ankomme und das erste Quantum Atmosphäre inhaliere, ertönt in meinem inneren Hohlraum ein Sex-Pistols Song. Heute, an einem müde-warmen, pelzgrauen Apriltag, ist es »Liar«. Eine Stelle im Mittelteil, wo sekundenlang alles zu zerbersten droht, ehe Steve Jones' Gitarre ein elastisches Fangnetz auswirft, bildet die Leinwand, auf der nach einem belang losen Vorspann (kaputter Aufzug, Hintertreppe, Hotelflur) meine erste Frage an den jungen Mann erscheint, der sich einst Tricky Kid nannte, um nicht mehr Adrian Thaw zu heißen: Mir kommt es vor; als würden Trickys Songs den Körper der Popmusik bis auf die Knochen entkleiden, um die sich dann diffuse Gruppen interessanter Insekten sammeln.
   »Ich kann meine Musik nicht so betrachten, weil ich zu nahe dran bin. Aber mir fällt auf, wie zur Zeit in England musikalisch alles verschmilzt Vorbei sind die Tage, als jemand ein reines Rockalbum oder HipHop-Album hören wollte. Ich meine, nicht ganz, aber warten wir mal fünf Jahre. Ich weiß, daß es kommt, weil ich es kommen fühle.« Tricky, dessen Oberkörper bei diesen Worten in meine Richtung geschnellt ist, als wolle er mir den Finger in die Nase stecken, läßt sich zurückfallen und öffnet ein Briefkuvert mit dunkelgrünen Bröseln. »Ich bin in einer schwarz-weißen Familie aufgewachsen. Ich kann mit schwarzen Freunden in einen Club gehen oder mit weißen Kumpels in einen Pub. Alles inspiriert mich: Rock, Rap ... obwohl ich eigentlich nichts davon sein will.«
   Das erklärt die Anwesenheit von Scott lan (Anthrax) auf Trickys neuem Album »Angels With Dirty Faces«. »Als Rage Against The Machine noch in die Windeln machten, hat Scott schon mit Public Enemy gespielt. Er hat Leute wie Rage Against The Machine geschaffen. Er ist das Original.«
   Immer häufiger fällt im Zusammenhang mit Tricky auch der Name Marilyn Manson ... »Ja, ich hab' gelesen, daß ich der Teufel von England bin und er der Teufel von Amerika. Der Unterschied: Er versucht, in sein Zeug eine düstere Schwingung zu kriegen. Mein Image ist einfach dunkel. Mein Manager sagt, ich sei beängstigend. Nicht gewalttätig - er findet mich intensiv. Ich denke, Marilyn Manson will so sein, genauso wie der Typ von Nine lnch Nails. Es ist Theater; eine Show. Für Kinder; verstehst du? Um Platten zu verkaufen.«
   Wir haben uns Trickys derzeitigem Lieblingsthema auf Sichtweite genähert. Und ich weiß: Ein guter Korrespondent läßt seine Meinung unten im Auto und berichtet mit kühler Seele, was Augen sehen und Ohren hören. Also werde ich den grauen Chitinpanzer des seltenen lnsekts abstreifen, um das folgende Stichwort-Pingpong angemessen wie dergeben zu dürfen:
   Viele deiner neuen Texte haben mit dem Leben in der Musikindustrie zu tun. >Habe ich Kehlkopfkrebs? Viel leicht hilft das, den Erfolg zu töten< und so was.
   »Ja, Erfolg ist schlecht, er nimmt dir alles weg. Ich hatte anfangs keine Ahnung von Musik, wollte nichts weiter als das tun, was ich tat. Du denkst dabei nicht im Traum an Geld. Wenn du dann Erfolg hast, denkst du: Mein erstes Album ist auf Platz drei eingestiegen. Wenn das nächste ... «
   ... auf Platz 40 landet...
   »... ist das ein Reinfall? Erfolg hat das Talent vieler Leute getötet, denn Talent besitzt man nicht Es ist ein Geschenk, ich weiß nicht von wem. Wenn ich behaupte, ich habe all diese Worte wohlüberlegt geschrieben und sie sollten genau das ausdrücken, was sie bedeuten, wäre ich ein Lügner«
   Ist das die Geschichte von dem inspirierten Träumer; der aufgeweckt wird?
   »Yeah! Wir gehen durchs Leben, als wäre es ein Traum. Jemand hat mich gefragt: Denkst du, du wirst irgendwann fröhliche Musik machen? Und ich: Ich weiß nicht. Wir machen uns was vor wenn wir denken, es gibt Freude im Leben.«
   Außer kleinen Dingen ...
   »Kleine Dinge, ja, aber in der Welt, global, gibt es keine Freude. Wir leben in einem Traumbild von dem, was wir für Glück halten, für Sicherheit«
   Aber inspirieren kann uns nur die Wirklichkeit.
   »Das Leben. Wenn du nicht lebst, wirst du nicht inspiriert. Wenn du berühmt wirst, dich wegsperrst, nie mit dem Bus fährst, mit Taxis, mit dem Zug... wenn du dich selbst so einkreist, lebst du nicht. Du brauchst das Leben, um Songs zu schreiben. Lebe!«
   Die Dinge zu verlangsamen, ist das auch ein Versuch, Gleichgewicht zu finden? Mir kommt es vor; als sei schnelle Musik eine Reaktion auf die Beschleunigung des Lebens.
   »Panikmusik. Wir leben im Zeital ter der Panik.«

 
Laß uns über Leute reden, mit denen du verglichen wirst, zum Beispiel Jim Morrison. Du bringst wie Morrison die Leute dazu, aus ihrem System von Regeln und Kompromissen auszubrechen.
   »Ich mache keine Kompromisse. Ich hasse berühmte Leute, außer sie sind cool. Ich habe kaum Freunde im Musikgeschäft, kenne keine Filmstars. Und ich bin grob und unhöflich wie die Sau. Aber ich denke, ich muß so
sein, um mich von deren beschissenen kleinen Heuchlerwelt femzuhalten. Also... ich weiß nicht viel über Jim Morrison. Aber ich will nicht in einer Badewanne sterben.«
   Trickys Gesicht ist olivbraun, scheint nur aus Muskeln zu bestehen und strahlt eine solche Wachheit aus, als wäre das, was er da ununterbrochen raucht, hochkonzentrierter Kaffee. Was es auch ist, es hat seine Stimme fast besiegt: Die wenigen verbliebenen Stimmbänder schnarren
und verlangen nach gewaltigen Luftmengen, um einen Ton zu erzeugen. Doch ihr Besitzer ist kaum zu bremsen:
   »Damals, als ich dauernd die Specials gehört habe, dachte ich, Terry Hall spricht mit mir. Spricht, nicht predigt Ich unterhalte mich mit den Zuhörern, erzähle ihnen von meinen Problemen. Ganz normalen Sachen, mit denen sie was anfangen können.«
   Viele Musiker verstehen das falsch, ziehen als Prediger durch die Stadien und wollen uns erzählen, was angeblich richtig und falsch ist.
   »Wenn du predigst, scheißen die Leute drauf. Jeder weiß, was richtig und falsch ist, man muß nur die Augen öffnen. Ich habe lang in Kensington gelebt, einer sehr wohlhabenden Gegend. Da war ein Penner vor dem Supermarkt, manche Leute gaben ihm ein Käsebrot und quatschten mit ihm. Dann fühlten sie sich besser; auf dem Heimweg zu ihren Million-Dollar-Häusern. Ich meine, come on: Wenn du ihm was Gutes tun willst, nimm ihn mit, laß ihn ein Bad nehmen, gib ihm einen Pyjama und ein Bett. Wir tun so, als wüßten wir, was los ist, aber wir wollen's gar nicht wissen, weil wir uns nicht schuldig fühlen wollen. Ich hab' zum Beispiel immer mit weißen und schwarzen Kids rumgehangen und mich gefragt: Zu wem gehöre ich eigentlich? Dann hab' ich die Specials gesehen - und kapiert. Na klar: Wir sollten alle gemeinsam rumhängen. Ihre Musik hat mir das gezeigt. Chuck D. hat mich gelehrt, die Regierung zu bekämpfen. Rakim brachte mir bei, friedlich zu sein. Prince zeigte mir meine feminine Seite. Verstehst du, das ist meine Erziehung. Ich hatte nie einen Vater; also 
waren diese Leute da. Ich habe das Glück, vielen Leuten von meinen Schwierigkeiten erzählen zu können. Und ich will nicht, daß du sagst: Oh, das ist ein guter Beat. Ich will deine Seele berühren.«
   Sind deshalb soviele >echte< Instrumente auf dem neuen Album?
   »Klar! Ich fange gerade erst an, mich als Musiker zu fühlen. Die Leute denken, ich bin ein technischer Zauberer; aber das ist nicht wahr. Ich liebe Songs, die nur aus Akustikgitarre und Stimme bestehen. Mit Musik ist es wie mit des Kaisers neuen Kleidern: Wenn etwas neu ist, traut sich keiner zu sagen, daß es Scheiße ist. Jemand sagt: Das ist neu, das ist super. Dann rennen alle wie die Schafe hin und geben ihr Geld für den Mist aus. Sie denken: Wenn das jeder gut findet, sollte ich es auch gut finden. In Amerika reden sie jetzt von einer Revolution der elektronischen Musik. Elektronische Musik ist die schlimmste Musik aller Zeiten. Das meiste ist Müll, egal wie neu, fortschrittlich, modern es ist - wenn es nicht gut ist, nützt die beste Technik nichts. Auf MTV hat mich jemand gefragt Wie fühlst du dich als Pionier der elektronischen Musik? Und ich mag das nicht. Wenn jeder elektronisches Zeug spielt, werde ich hingehen und ein Rockalbum machen. Das ganze technische Zeug ist Firlefanz, ein einziger Gimmick. Du brauchst keine Elektronik, du brauchst Geist und Seele. Ein paar Beats sampeln, modern aussehen und Erfolg haben - Müll. Außerdem durchschaut man die Lügen, wie bei den Sneaker Pimps: Das Mädchen schreibt gute Songs, aber die aufgedonnerte Heuchler-Musik macht alles kaputt. Mit jemand anderem wäre sie gut, sie hat Melodie, Energie, irgendwas. Die Typen sind Trottel, die nicht mal wissen, warum sie das tun. Es ist nicht ihre wahre Natur; sie drücken nichts aus. Wenn du die Möglichkeit hast, dich auszudrücken, und tust es nicht...«
   ist die Chance verschwendet. Millionen sehen dich im Fernsehen...
   »... und du erzählst, daß du dir letztens ein paar neue Turnschuhe gekauft hast. Es ist ein Riesenschwindel. Es ist auf eine gewisse Art wie die Sex Pistols, nur ohne deren Kraft und Überzeugung. «
   Da sind wir also schließlich wieder bei den Sex Pistols gelandet, aber die Atmosphäre hat sich geändert: Die Luft ist fast undurchsichtig vor Qualm, im Hintergrund plärrt vergeblich ein Fernseher; und »Liar« kommt mir nicht mehr in den Sinn.

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  photos: Stefan Matzkorn

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